Faszinierende Architekturgeschichte lockt Besucherinnen und Besucher in den Schelmengraben

Ernst May war ein Architekt, der Zeichen setzte. Im ganzen Rhein-Main-Gebiet finden sich seine Siedlungen, in Frankfurt will man sie sogar zum Weltkulturerbe machen. In Wiesbaden wirkte der Architekt in den frühen sechziger Jahren und plante unter anderem den Schelmengraben. Einen ganz anderen Blick auf dieses Viertel lenken wollen die Kulturwissenschaftlerin Petra Schwerdtner und das Frankfurter „Forschungslabor Nachkriegsmoderne“ an der University of Applied Sciences. Sie veranstalteten am 12. Juni einen Siedlungsspaziergang, an dem rund zwei Dutzend Interessierte teilnahmen

Grüner Ort der Begegnung

Gebaut wurde der Schelmengraben, um die Wohnungsnot in der Nachkriegszeit zu mildern. Viele Flüchtlinge, die dringend Wohnungen brauchten, kamen damals nach Wiesbaden. Ernst May plante die Großsiedlungen – auch Klarenthal oder das Parkfeld – am Rande der Stadt. Viel Wert legte er auf Grün, die Siedlungen sind von großzügigen Grünräumen durchzogen und durch Balkons für jede Wohnung sollten alle direkt in die Natur schauen können. Außerdem wollte er durch unterschiedliche Haus- und Wohnungstypen eine soziale Mischung erreichen. Nicht zuletzt wollte er auch durch abwechslungsreiche Gestaltung ein ansprechendes Äußeres in den Siedlungen schaffen und durch kreativ gestaltete Innenhöfe Begegnungsmöglichkeiten bieten.

Geprägt werden seine Siedlungen durch Hochhäuser an markanten Punkten. Das „rote Hochhaus“ sollte ursprünglich mit dem Einkaufszentrum an seinem Fuß einen Mittel- und Treffpunkt bilden. Der derzeitige Zustand entspreche leider dieser Idee nicht mehr, bedauerte die Wissenschaftlerin. Doch sie zeigte auch hier, dass sich May mit der dem damaligen Trend entsprechenden Fassadengestaltung mit den charakteristischen wellenförmigen „Kanneluren“ etwas gedacht hatte, auch mit dem Einkaufszentrum zur Nahversorgung und dem eigenen Heizkraftwerk mit dem markanten Schornstein. Hier befindet sich jetzt das Stadtteilbüro, das im Rahmen des Programms „Sozialer Zusammenhalt“ wichtige soziale Arbeit leistet und die Bewohnerinnen und Bewohner an vielfältigen Aktionen beteiligt, um ihre Wünsche und Ideen aufzunehmen.

Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich wohl

Nur wenige Meter von diesem Ort entfernt tut sich der tatsächliche „Schelmengraben“ auf, ein grüner Urwaldpfad, der völlig vergessen lässt, dass man sich im Zentrum des Stadtteils befindet. Der Kontrast faszinierte auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Führung. Architekturdetails wie die besondere Farb- und Fassadengestaltung nach dem Geschmack der sechziger Jahre erläuterte Petra Schwerdtner immer wieder: Zum Beispiel den Kontrast zwischen Sicht -oder Waschbeton und ochsenblutroten Details. Viele Häuser werden jetzt nach den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner umgebaut, erhalten zum Beispiel neue Spielplätze oder barrierefreie Eingänge. Immer wird Wert auf die Meinung der dort Wohnenden gelegt, so wurden gemeinsam Modelle gebaut, Vorschläge zur Abstimmung ausgelegt oder Befragungen durchgeführt.

Viele Häuser werden jetzt nach den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner umgebaut, erhalten zum Beispiel neue Spielplätze oder barrierefreie Eingänge. Immer wird Wert auf die Meinung der dort Wohnenden gelegt, so wurden gemeinsam Modelle gebaut, Vorschläge zur Abstimmung ausgelegt oder Befragungen durchgeführt.

Eine schöne Idee fand Petra Schwerdtner auch, dass hier Hausmeister aktiv sind, die selbst direkt im Viertel wohnen und sich so stärker damit identifizieren. Ein im Schelmengraben lebendes Ehepaar, das eine Eigentumswohnung in der so genannten „Burg“ bewohnt, bestätigte, dass man hier gut leben könne. „Wir fühlen uns hier sehr wohl.“ Den Eindruck hatte Petra Schwerdtner bei ihren Vorbereitungen auch: „Hier herrscht Leben, man wird begrüßt und gefragt, der soziale Zusammenhalt scheint gut zu funktionieren.“  Auch andere Passanten, die die Gruppe neugierig befragte, bestätigten das. Der Schelmengraben sei gekennzeichnet durch viele Ältere und ebenso viele junge Familien. Für sie gibt es reichlich Infrastruktur: Gerade wird ein vierter Kindergarten gebaut, auch ein neues Stadtteilzentrum für die Jugendarbeit, aber auch für andere soziale und kulturelle Angebote. Für Seniorinnen und Senioren bieten die Johanniter Beratungsleistungen vor Ort und einen täglichen Mittagstisch in einer der Seniorenanlagen an. Das Angebot des Stadtteilbüros bietet ebenfalls zahlreiche Aktivitäten für die Bürgerinnen und Bürger, vom Repair Cafe bis zum Schreib- und Leseservice oder der Organisation des Quartiersrats.  

Dass über ein Viertel der hier Wohnenden bereits über 20 Jahre im Schelmengraben lebt, bestätigt nach Ansicht von Petra Schwerdtner, die den Spaziergang in einem der gut eingewachsenen Gärten in der unteren Hans-Böckler-Straße enden ließ, dass man sich mit dem Viertel identifiziere. Ein junger Mann habe ihr berichtet: „Wenn ich von der Arbeit komme und am Bahnhof in den Bus Nummer 27 steige, dann habe ich das Gefühl, ich fahre nach Hause.“

Weitere Infos: www.frankfurt-university.de/de/hochschule/fachbereich-1-architektur-bauingenieurwesen-geomatik/forschungsinstitut-ffin/fachgruppen-des-ffin/forschungslabor-nachkriegsmoderne/

Ein junger Mann habe ihr berichtet: „Wenn ich von der Arbeit komme und am Bahnhof in den Bus Nummer 27 steige, dann habe ich das Gefühl, ich fahre nach Hause.“

Gastbeitrag von Anja Baumgart-Pietsch